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„Die Menschen sind das Erfolgsrezept der Stiftung“

Stadtdechant Dr. Wolfgang Picken im Interview

Ayla Jacob im Interview mit Stadtdechant Dr. Wolfgang Picken

Vor fast 16 Jahren gründete Stadtdechant Dr. Wolfgang Picken die Bürgerstiftung Rheinviertel. Seitdem war er – mit kurzer Unterbrechung – Vorsitzender der Stiftung. Am 1. März 2021 gab er den Staffelstab an den neuen leitenden Pfarrer von Bad Godesberg, Pater Dr. Gianluca Carlin FSCB, ab.

Im Interview lässt er die vergangenen 16 Jahre Revue passieren, spricht über seine persönliche Bindung an die Stiftung und wagt einen Blick in die Zukunft.

 

Sie haben die Bürgerstiftung ins Leben gerufen, sind gegangen und zurückgekehrt – um jetzt wieder Abschied zu nehmen. Ist es ein „Auf Wiedersehen“ oder ein „Lebwohl“?

Es ist auf jeden Fall ein „Auf Wiedersehen“, denn ich bleibe ja im Kuratorium der Bürgerstiftung. Sie ist etwas, was ich mit Liebe und Leidenschaft mit entwickelt habe. Daher kann ich es mir gar nicht anders vorstellen, als mit ihr auch weiterhin in Verbindung zu bleiben.

 

Was bedeutet die Bürgerstiftung für Sie?

Die Bürgerstiftung Rheinviertel – damit meine ich nicht nur die Projekte, sondern vor allem auch die Menschen – liegt mir sehr am Herzen. Ursprünglich ist sie aus dem Gedanken entstanden, dort einzutreten, wo sich Kirche zurückzieht. So sollten unter anderem Kindergärten gerettet und eine Hospizschwester eingestellt werden. Das waren die Anfänge. Damals hätten wir nicht damit gerechnet, dass sich aus dieser Initiative ein Flaggschiff bürgerlichen Engagements im kirchlichen Raum entwickeln wird. Doch es ist geschehen. Es ist ein Wir-Gefühl entstanden, das uns trägt. Die Menschen gestalten ihr Viertel, ihre lokale Gesellschaft selbst. Das ist das, was ich mir gewünscht habe. Und was tatsächlich eingetreten ist.

 

Ist das das Erfolgsrezept der Bürgerstiftung?

Definitiv, das ist es. Die ehrenamtlichen Helfer sind im Rheinviertel verhaftet, sie identifizieren sich mit den Projekten. Dieses Gefühl bleibt und besitzt Strahlkraft. Das zeigt sich auch daran, dass die Bürgerstiftung zahlreiche Nachahmer gefunden hat. Mittlerweile gibt es bistumsweit Jugendreferenten und Ehrenamtskoordinatoren, integrierte Hospize oder auch heilpädagogische Beratungs- und Förderdienste. Die Bad Godesberger Initiative ist eine Art Trendsetter und besitzt Vorbildcharakter. Das ist vor allem den Menschen zu verdanken, die hinter allem stehen. Diese bis zu 2000 ehrenamtlichen Helfer und die hauptamtlichen Mitarbeiter sind das Erfolgsrezept.

 

Als die Bürgerstiftung vor rund 16 Jahren gegründet wurde, gab es auch skeptische Stimmen. Gibt es sie immer noch? Falls ja: Wie gehen Sie mit ihnen um?

Skeptiker und Kritiker gibt es immer, und das ist auch gut so. Durch und an Kritik wächst man, beleuchtet Dinge neu und kann sich weiterentwickeln. Einzige Voraussetzung: Die Kritik muss konstruktiv sein. Dann ist sie sehr hilfreich. Wir haben einige positive Beispiele in der Vergangenheit, in denen wir Kritik aufgreifen und zunächst skeptische Menschen einbinden konnten.

 

Haben sich die Menschen, hat sich das Viertel also durch die Gründung der Stiftung verändert?

Ja. Dadurch, dass die Menschen ihren eigenen Lebensbereich gestalten, wächst die Motivation. Denn sie können die Früchte Ihrer Arbeit ernten. Ehrenamt ist ja nicht immer altruistisch zu verstehen. Es ist nichts schlimmes, wenn man einen persönlichen Nutzen von seiner Arbeit hat. Zahlt sich mein Engagement für mich, für meine Kinder oder Eltern aus, ist das eine zukunftsweisende Motivation. Wer einmal dabei ist, bleibt auch häufig. Außerdem sieht man die Änderungen, die die Gründung der Stiftung mit sich gebracht hat, täglich. In Person der Palliativschwestern, die Sterbende und ihre Angehörigen begleiten. In Person der Demenzhelfer, die den Menschen beiseite stehen. In den Kindergärten, die hätten schließen müssen. Oder auch in den Netzwerken der Generation „50 plus“. Um nur einige zu nennen.

 

Sollte es also in jeder Gemeinde eine Bürgerstiftung geben?

Das wäre natürlich erstrebenswert. Sollte der Wunsche bestehen, die Bürgerstiftung an anderen Orten zu etablieren, würden wir und freuen – und gerne mit Tipps unterstützen. Das haben wir auch in der Vergangenheit schon getan. Wir aber expandieren geografisch nicht von uns aus. Die Menschen sind ja stark in ihrem Viertel verhaftet. Ich denke, dass es zum Beispiel schwer wäre, Bad Godesberger zu finden, die etwas in Hardtberg auf die Beine stellen wollen. Oder Beueler, die das in Bonn tun möchten. Wichtig ist für viele die Arbeit vor der eigenen Tür.

 

Wenn Sie auf die vergangenen Jahre zurückblicken: Was waren die prägendsten Bürgerstiftungs-Momente für Sie?

Ich würde das nicht an einzelnen Momenten fest machen. Das Schöne ist die gesamte Geschichte, die extrem dynamisch war. Aus diesen zarten Anfängen ist eine Stiftung mit vielen unterschiedlichen Projekten und Akzenten geworden, die ja zum Teil auch Pilotprojekte sind. Ich hätte nie gedacht, dass sich daraus ein so umfängliches und großes bürgerschaftliches Engagement entwickeln würde, mit einer so erheblichen Beteiligung von Bürgern und Gemeindemitgliedern, die die Dinge nach vorne gebracht haben. Es ist also nicht ein Moment oder viele, es ist das Ganze, was mich beeindruckt und was ich mitnehme.

 

Das vergangene Jahr war wegen der Corona-Pandemie eine Belastung – auch für die Bürgerstiftung Rheinviertel. Wie konnte es gemeistert werden?

Das vergangene Jahr war auch für die Bürgerstiftung schwierig, da alle Veranstaltungen abgesagt werden mussten – so auch alle Feiern rund um den 15. Geburtstag der Stiftung. Das hat viele getroffen. Gerade bei Benefiz-Veranstaltungen wie Konzerten, dem Golfturnier, Konzerten auch dem Stiftungsball entsteht das Wir-Gefühl, von dem die Stiftung getragen wird. Alle, die dabei sind, spüren, dass wir eine Gemeinschaft sind, die dasselbe Ziel verfolgt. Jeder gehört dazu, egal wie und wie oft er sich einbringt. Wenn es das nicht mehr – oder nur in abgespeckter Version – gibt, wird es problematisch. Wir haben versucht, die Menschen anders einzubinden, digital, durch Mailings und persönliche Ansprachen das Wir-Gefühl zu erhalten. Und es ist geglückt. Wir brauchen rund eine halbe Millionen Euro an Spenden pro Jahr, um alle Angebote – vom Kindergarten bis zum Palliativdienst – aufrecht erhalten zu können. Dieses Ziel haben wir auch 2020 erreicht. Trotz Corona.

 

Wo sehen Sie die Bürgerstiftung in fünf Jahren?

Das ist schwer zu sagen. Als wir mit der Bürgerstiftung angefangen haben, haben wir ein Prospekt für fünf Jahre gedruckt. Wir waren total überrascht, dass nach einem Jahr alle Projekte umgesetzt waren, die wir für fünf Jahre angekündigt haben. Man kann also die Dynamik der Bürgerstiftung nicht wirklich einschätzen, weil die Leute, die aktiv sind, total überraschen und sich die Zeiten ständig ändern. Aber ich bin sicher, dass es eine Community bleibt, die das Rheinviertel weiterhin bestimmen wird, in der sich viele Leute engagieren und es wird spannend sein zu beobachten, was das dann konkret bedeutet.

 

Was würden Sie Bad Godesberg im Allgemeinen und der Bürgerstiftung Rheinviertel im Besonderen wünschen?

Der Wechsel im Vorstand durch den neuen Pfarrer ist eine Veränderung. Veränderungen bieten immer Risiken und Chancen. Ich würde der Bürgerstiftung wünschen, dass es keine Risiken gibt. Sondern dass die Bürger und Förderer ganz eng mit der Stiftung verbunden bleiben und dass sie die Chancen einer neuen Periode nutzen. Denn die moderne Gesellschaft braucht Impulse, die aus der Bürgerschaft kommen – von unten nach oben. Die Bürgerstiftung Rheinviertel war Trendsetter in vielen Fragen. Ich würde ihr wünschen, dass sie das bleibt. Und dass sie immer den Mut hat, Projekte nicht nur zu denken und sie sich vorzunehmen, sondern es bei dem Prinzip belässt: Wir setzen die Ideen, die wir haben, ohne Bedenken um.

 

Bild: © Ayla Jacob


Interview-Kurzfassung als Video